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Fiktive GeschichteFlucht aus Torgau Als Ergebnis unserer Recherchen schreiben wir eine Stelle im Buch „Weggesperrt“ von Grit Poppe um. Basierend auf dem Thema „Widerstand“ und unseren gesammelten Informationen wollen wir ein Szenario entwickeln und beschreiben, in dem Anja und Gonzo eine gemeinsame Flucht planen und durchführen. Die Ausgangssituation ist die, dass die beiden Freundinnen sich in Torgau wiedertreffen und zusammen schwierige Situationen durchstehen. Als Gonzo ein Vergehen, das eigentlich Anja begangen hat, auf sich nimmt, wird sie in die Dunkelzelle gesperrt und kehrt anschließend völlig apathisch zurück. Nur Anja weiß, wie sie sie wieder aufmuntern kann. Sie singt ihr das „Torgaulied“ vor und es gelingt ihr, dass Gonzo wieder anfängt zu sprechen. An dieser Stelle, basierend auf Kapitel 13, setzt unsere alternative Geschichte ein. S.256 Zeile 28: „Dort sind Dunkelzellen. Du siehst nichts, hörst nichts. Weißt den Unterschied nicht zwischen Tag und Nacht. Du weißt… eigentlich überhaupt nichts mehr. Ob du je wieder rauskommst… Du denkst daran, dass es besser ist, tot zu sein, als hier zu leben.“ Kapitel: 13.1 Anja entgegnete ihr schockiert: „Stopp! Hör auf so zu reden! Das ist es doch, was sie wollen. Sie wollen uns fertig machen, aber wir müssen stark bleiben.“ Genervt verdrehte Gonzo die Augen. „Das hat doch eh alles keinen Sinn. Hier kommen wir nicht mehr raus.“ Eigentlich wollte Anja widersprechen, doch ihr ging immer wieder Gonzos letzter Satz durch den Kopf. Sollte ihr Schicksal wirklich besiegelt sein? Nein, dachte Anja entschlossen. „Du hast Recht. Alleine kommen wir hier nicht raus, aber zusammen hätten wir eine Chance.“ Schweigen erfüllte den Raum. Die beiden Freundinnen schauten sich wortlos an und Gonzo richtete sich auf. Plötzlich spürte sie neue Hoffnung in sich auflodern. „Weißte, Anja, ich war mein Leben lang auf mich allein gestellt. Meine Alte hat mich verlassen und ins Heim gesteckt. Von da an ist alles schiefgelaufen. Du siehst ja, wo ich gelandet bin. Unzählige, aber vergebliche Fluchtversuche hab‘ ich gestartet, ohne jemals aufgegeben zu haben. Aber vielleicht bist du die Lösung, vielleicht schaff‘ ich’s jetzt – mit dir!“ Verschreckt verwies Anja Gonzo, still zu sein. Schließlich war dies ein gefährliches Unterfangen, von dem weder ihre Mitinsassen, noch die Erzieher etwas wissen durften. Würde auch nur irgendjemand von ihrem Gedanken an eine Flucht erfahren, würde das gleichzeitig Arrest und das Ende ihrer Hoffnung bedeuten. Gonzo lachte auf und fuhr mit gesenkter Stimme fort: „Bald müssen wir uns hierum keine Sorgen mehr machen, denn ich habe ‘ne Idee.“ Im weiteren Verlauf des Abends erklärte Gonzo, dass es unbedingt nötig sei, die Erzieher mit List zu überwältigen und die Zellenschlüssel an sich zu nehmen. „Sonst haste hier keine Chance.“ Plötzlich donnerte es an der Tür und die Erzieherin Frau Feist erschien. Wütend schrie sie: „Ruhe jetzt! Sonst geht’s grad wieder in den Keller, Pätzold!“ Sofort stolperte Anja in ihr Bett und zog sich die Decke über den Kopf. Sie waren so vertieft in ihre Fluchtpläne gewesen, dass sie das Rascheln des Schlüssels auf dem Gang nicht bemerkt hatten. Gonzo zeigte ihr „Daumen hoch“ und legte sich schlafen. Anja jedoch fand die ganze Nacht keine Ruhe. Sie musste ständig darüber nachdenken, ob Frau Feist wohl etwas von ihrem Gespräch mitbekommen hatte. Gleichzeitig konnte sie die wunderschönen Bilder der Freiheit, die sie sich in ihrem Kopf ausmalte, sollte ihre Flucht gelingen, nicht verdrängen. Sie sah Gonzo und sich auf dem Eiffelturm in Paris stehen und ihre Freiheit genießen. Dementsprechend müde war sie, als sie am nächsten Morgen um 5.30 Uhr zum Frühsport geweckt wurden. Doch ausnahmsweise fiel ihr der harte Sport trotz ihrer enormen Müdigkeit nicht schwer. Immer wieder hatte sie den Pariser Eiffelturm vor Augen. Nach unzähligen Runden auf dem Hof brüllte Frau Feist: „Sander, Pätzold, ihr seid dafür verantwortlich, dass das ganze Kollektiv nun noch 20 Torgauer Dreier machen muss! Euer kleines Kaffeekränzchen gestern Abend soll nicht ungestraft bleiben.“ Mit lautem Stöhnen schmissen sich die Mädchen auf den Boden und straften Gonzo und Anja mit hasserfüllten Blicken. Erneut vernahmen sie Frau Feists wütende Stimme: „Und noch 10 hinterher! Gestöhnt wird hier nicht.“ Selbst nachdem die ganze Gruppe den verordneten Strafsport absolviert hatte, waren Anja und Gonzo noch voller Hoffnung. Sie hatten ein Ziel, für das sie zu leiden bereit waren. Ihr Ziel war die Freiheit. Am Abend, kurz vor der Nachtruhe, begannen die beiden Freundinnen spontan mit der Ausführung ihres Plans, da der Strafsport am Morgen ihnen erneut bewiesen hatte, dass sie keinen Tag länger der Willkür der Erzieher ausgehändigt sein wollten. Wie geplant fingen die beiden einen gespielten Streit an. Auch wenn Anja sich große Sorgen machte, wollten sie sowohl die Erzieher als auch ihre Mitinsassen davon überzeugen, dass sie sich gegenseitig nicht vertrauten. „Hättest du doch die blöden Schrauben nicht aus deinem blöden Schuh geholt, Anja!“, schrie Gonzo und musste sich gleichzeitig ein Lachen verkneifen. Anja erschrak, als sie ihre eigene Stimme laut durch die Gruppenzelle und den Flur hallen hörte: „Ach sei doch still, Pätzold! Du hast es doch verdient. Und jetzt willst du mir auch noch die Schuld geben!“ So laut hatte Anja in Torgau noch nie gesprochen. Ungewiss über das, was jetzt passieren würde, fingen die beiden ein gespielt wildes Handgemenge an. Dabei zwinkerte Gonzo Anja immer wieder zu. Ihre optimistischen Züge nahmen Anja die Panik und sie ließ sich auf ihr Schauspiel ein. Sie wusste, dass, wenn einer schwächelte, sie beide in große Schwierigkeiten kämen. Schließlich hatte Gonzo die Qualen der Dunkelzelle nur für sie auf sich genommen und sie wollte nicht schon wieder schuld an einer Bestrafung ihrer Freundin sein. Anja wusste, was folgen würde. Für Gonzo war es nun an der Zeit. Sie hatten sich überlegt, dass es am besten sei, vorzutäuschen, dass Gonzo aufgrund ihres Aufenthalts in der Dunkelzelle verrückt geworden sei. Gonzo begann. Plötzlich fing sie an, sich durch den Raum zu rollen. Sie verdrehte die Augen und schrie dabei immer wieder: „Verräterin, Verräterin!“. Gonzo hatte bereits genug Speichel in ihrem Mund angesammelt, um den Eindruck zu erwecken, sie könne ihre Mundwinkel und ihren Speichelfluss nicht mehr kontrollieren. Nun bekamen es auch die Insassen der Zelle mit der Angst zu tun, die sich vorher kaum für den Streit zwischen den beiden Freundinnen interessiert hatten. Sie glaubten, eine verrückte Psychopathin vor sich zu haben. Schließlich richtete Gonzo sich mühsam wieder auf und ging langsamen Schrittes auf Anja zu, die sich wie abgesprochen in die Nähe des Bettes gestellt hatte, auf dem sie zuvor einen Schnürsenkel platziert hatten. Kaum hatten auch die anderen Mädchen in der Zelle panisch angefangen zu schreien, standen die Erzieher Frau Feist und Herr Kossack in der Tür. Auch diese konnten die Situation nicht einschätzen. Sie wussten nicht, wie sie mit dem scheinbar verrückt gewordenen Mädchen umgehen sollten. „Pätzold! Sander! Sofort aufhören! Was ist hier los? Meldung erstatten!“, schrie der Holzfäller, wie Anja ihn immer nannte. Jedoch war es in Torgau nicht üblich, sich zwischen zwei sich streitende Zöglinge zu stellen und das wussten auch Anja und Gonzo, die ihre Rollen weiterhin authentisch spielten. Sie kamen nun zum Finale ihrer kleinen Vorstellung. Gonzo drohte Anja damit, sie umzubringen und nahm den Schnürsenkel an sich. Frau Feist begriff sofort, was das zu bedeuten hatte. Gespannt und ängstlich stierte Anja zu den beiden Erziehern und beobachtete deren Reaktion. Würde keiner der beiden eingreifen, wäre ihr Plan hinüber. An der Tür befahl Frau Feist, die langsam ihre Fassung zurückerlangte, aufgeregt: „Kossack, holen Sie sofort Hilfe! Wir können uns hier keinen Mord mehr erlauben, Sie sehen doch, was da draußen los ist. Die Leute würden es niemals akzeptieren, man weiß zu viel. Los, beeilen Sie sich!“ Der Holzfäller rannte sofort den Gang entlang. Doch Gonzo hatte bereits begonnen, Anja den Schnürsenkel um den Hals zu schlingen. Anja befürchtete, dass, wenn jetzt nichts passierte, Gonzo gezwungen wäre, sie umzubringen. Also schrie sie voller Panik: „Hilfe! Hilfe! Sie tötet mich.“ Gonzos Bewegungen wurden langsamer und Anja wusste, dass sie einen innerlichen Konflikt führte. Wie sollte es jetzt weitergehen? Sie merkte, wie sich der Schnürsenkel langsam immer fester um ihre Kehle schlang. Wieder einmal musste Anja den Kopf über die Skrupellosigkeit der Erzieher hier schütteln. Ihre angsterfüllten Schreie brachten Frau Feist in eine missliche Lage. Kurzerhand ging sie zwischen die beiden und schlug auf Gonzo ein. Währenddessen reagierte Anja schnell und zog den Schlüsselbund, von dem sie wusste, dass er sich in der hinteren Hosentasche befand, mit einer unauffälligen Bewegung heraus. Sie spürte seine schwere Gestalt in ihrer Hand und war unsicher über das, was sie jetzt tun sollte. Plötzlich schien ihr so gut ausgedachter Plan nicht mehr perfekt zu sein. Was passierte, wenn sie Frau Feist mit dem Schlüsselbund schlug? Würde sie bewusstlos werden oder würde sie sofort merken, dass hier etwas nicht stimmte? Ihr blieb keine Zeit. Sie beobachtete die immer noch verrücktspielende Gonzo und Frau Feist, die immer wieder mit ihren Fäusten auf Gonzo einschlug. Aber Anja sah auch, dass Frau Feist bereits aus der Nase blutete und nicht ohne Blessuren aus diesem Kampf herauskommen würde. Kurzerhand beschloss sie, dass ihr keine andere Wahl blieb. Sie sammelte alle Kraft, als wolle sie einen Ball mehrere Meter weit werfen und schleuderte den Schlüsselbund gezielt gegen den Hinterkopf von Frau Feist. Diese brach zusammen, nachdem Gonzo sich von ihrem Griff befreit hatte und ihr noch einmal mit aller Wucht in den Bauch getreten hatte. In dieser Situation ließ Gonzo ihre ganze Wut heraus und brüllte auf die bereits am Boden liegende Erzieherin ein: „Nicht mehr so ganz auf der Höhe, Fräulein? Oder ist noch ein Torgauer Dreier gefällig?“ Doch jetzt musste es schnell gehen. Der Holzfäller konnte jederzeit zurückkehren. Anja nahm den Schlüsselbund schnell wieder an sich und umfasste ihn fest, damit er beim Rennen nicht rascheln konnte. Kaum, dass sie realisiert hatten, was gerade geschah, waren sie auch schon am losrennen. Dies war der Zeitpunkt, an dem sich alles entscheiden würde. Anja wusste nicht, ob ihre vor Aufregung zitternden Beine sie tragen würden, doch auch diese wussten anscheinend, dass sie einfach nicht aufgeben durften. Denn eins war klar: Würden sie an dieser Flucht scheitern, würde das ihr Ende bedeuten. Sie wollte sich nicht ausmalen, was mit zwei Ausreißern geschehen würde, die eine Erzieherin niedergeschlagen hatten. Mit der Angst im Nacken, die sie antrieb, erreichten Gonzo und sie schließlich das erste Tor, das ihren Flur vom Hauptgebäude abgrenzte. Anja konnte ihr Glück kaum fassen: Ihnen war noch keiner begegnet. Gonzo und sie hatten ausgemacht, dass, wenn ihnen einer vom Personal begegnen würde, sie ihn ebenfalls brutal niederschlagen und um ihr Leben rennen müssten. Gonzo hatte ihr vorher immer wieder auferlegt, dass es wichtig sei, seine Werte und Prinzipien in einem solchen Moment niederzulegen, da es nicht Anjas Vorstellungen entsprach, Gewalt anzuwenden. Die Treppen waren für sie nun keine Hindernis mehr, doch Anja musste noch ein letztes Mal daran denken, wie sie mit Gonzo hier im Entengang immer wieder auf- und abgehen musste. Am Fuße der Treppe schien ihr Ziel so nah. Gonzo drehte sich beim Rennen zu Anja um und sie sah ihrem Gesicht an, dass sie am liebsten laut losgeschrien hätte – vor Freude, denn es war immer noch kein Erzieher in Sicht. Das große, sperrige Eisentor, dachte Anja, war ihre letzte Hürde. Sie wusste noch genau, wie es war, als sie es bei ihrer Ankunft zum ersten Mal erblickt hatte. Vor ihr riss Gonzo die Tür zum Ausgang auf, in der Hoffnung auch wirklich am Eisentor anzugelangen. Schließlich waren sie beide nur bei ihrer Ankunft einmal kurz hier entlang gekommen. Wieder war das Glück auf ihrer Seite: Das Eisentor, das sie von ihrer Freiheit trennte, war in Sicht. Anjas Lungen schmerzten unerträglich, so schnell war sie gerannt und sie hatte das Gefühl, das Tor nie zu erreichen. Gonzo bemerkte Anjas Schwäche, kehrte um und zog sie an der Hand hinter sich her. Anja war ihr so unglaublich dankbar, denn ihr Plan schien wirklich aufzugehen. Die Freiheit war nur noch wenige Schritte entfernt. „Ich bin dann mal weg.“, schrie Gonzo völlig befreit von jeglicher Sorge, nahm den Schlüssel von Anja und steckte ihn mit voller Elan in das Schlüsselloch. Aber bevor das Schloss aufschnappen konnte, spürte Anja eine schwere Hand auf ihrer Schulter. Sie kannte diesen Griff. Es war vorbei. „Das glaube ich nicht!“, sagte Herr Nitzschke mit ruhiger Stimme. Ein anderer Erzieher ergriff sofort Gonzo, die wie wild um ihr Leben schrie. Doch Anja konnte keinen Laut von sich geben. Es war alles schiefgelaufen. Es war vorbei. 13.2 War es Tag oder Nacht? Anja wusste es nicht. Sie wusste auch nicht, wie viele Stunden sie nun schon hier verbracht hatte. Es mussten viele gewesen sein. Jetzt verstand sie, wie sich Gonzo nach ihrem Aufenthalt in der Dunkelzelle gefühlt hatte. Eigentlich spielte das auch keine Rolle mehr. Das hier war das Ende. Sie waren so nah dran gewesen, sie hatte die Luft der Freiheit schon spüren können. Wären sie doch nur etwas schneller gerannt, vielleicht wären sie dann noch nicht da gewesen, die Erzieher, die alles wieder zerstört hatten. Wie konnten sie nur denken, sie könnten es schaffen. Und wieder war Anja schuld. Wo war Gonzo überhaupt? Auch in dieser Hölle? Vermutlich. Man hatte sie nach ihrer Festnahme getrennt. Vorher hatten sie zugeschlagen. Anja spürte jeden einzelnen blauen Fleck an ihren Körper. Alles schmerzte, sie hatten nichts verschont. Gelacht hatten sie. Gefragt hatten sie sie, wie sie überhaupt die Macht der Erzieher so hatten unterschätzen können. Anja fand auch jetzt noch keine Antwort darauf. Sie war es doch eigentlich selbst schuld. Sie war dafür verantwortlich, dass sie hier saß und dass Gonzo erneut diese Höllenqualen erleiden musste. Anja konnte ihre Schreie immer noch hören. Schreie, einer gebrochenen und verzweifelten Freundin, die immer und immer wieder mit dem Stock auf den Kopf geschlagen bekam. Anja hatte zusehen müssen, bis schließlich sie an der Reihe war. Gonzo hatte in der Ecke gekauert, während Anja die Willkür und Brutalität der Erzieher in einem ihr bis jetzt unbekannten Ausmaße zu spüren bekam. In jenem Moment entschwanden jegliche Hoffnung und der letzte Lebenswille aus ihr. Aber das wollten sie doch, oder? Sie wollten eine Marionette aus ihr machen. Das war doch alles nur Teil ihres Plans. Doch ich werde ihnen ihren Willen nicht geben, dachte Anja entschlossen, so lange mein Herz schlägt, werde ich mich ihnen widersetzen und kämpfen. Hoffentlich hatte Gonzo noch nicht aufgegeben. Und plötzlich spürte Anja das sanfte Fell und den warmen Atem des Panthers aus Rilkes Gedicht. Er beschützte sie doch immer. Wie konnte sie nur Angst gehabt haben? „Jugendliche Sander!“, brüllte Herr Nitzschke, ein Sadist. „Jugendliche Sander meldet, in Dunkelarrest wegen versuchter Entweichung.“ Anja stand stramm in der Zelle, die Hände an der Hosennaht. So wie es sich eben gehörte. „Raustreten!“ Sie gehorchte. Anja schöpfte neue Hoffnung. War ihr Aufenthalt in der Dunkelzelle nun beendet? Sie spürte Freude in sich aufkommen. Seltsamerweise führte Herr Nitzschke sie nicht in den Gruppenraum oder zum Sport. Er steuerte eine der normalen Arrestzellen, in die man bei seiner Ankunft in Torgau gesteckt wird, an. In diesem Moment wusste Anja noch nicht, dass alles noch schlimmer kommen würde.
13.3 Lebte sie nicht mehr oder warum spürte sie einfach nichts mehr? Das Einzige, was sie fühlte, waren immer wieder seine Berührungen. Warum hatte er ihr das angetan? Jetzt sah sie nicht einmal mehr den Panther. Keiner war mehr da, um sie zu beschützen. Sie fühlte sich dreckig und beschmutzt. Weder konnte das Duschen danach sie reinigen, noch konnte es die schrecklichen Erinnerungen an seine Hände auf ihrem Körper wegspülen. Würden sie jemals verschwinden? Würde überhaupt noch jemand etwas mit ihr zu tun haben wollen oder würde sie für den Rest ihres Lebens alleine sein? Wollte sie überhaupt noch einen Rest des Lebens? Wäre es nicht einfacher, allem ein Ende zu setzen? Gonzo hatte Recht gehabt: Es war besser tot zu sein, als hier zu leben. Ist das hier überhaupt ein Leben? Und wieder dachte sie an Paris mit Gonzo. Das war Leben. Ein Leben, das sie nie kennenlernen würde, denn sie saß hier wieder im Dunkeln, alleine, verlassen und fertig. Nun hatten sie es endgültig geschafft, sie hatten sie gebrochen. Das hier war die Hölle. Was hatte sie denn eigentlich so Schlimmes gemacht? Womit hatte sie das verdient? Wieder und wieder kam ihr in den Kopf, was die Erzieher einst zu ihr sagten: Selbst schuld. Sie hatten Recht. Selbst schuld. Selbst schuld. Selbst schuld. Wenn sie doch jemals hier herauskommen sollte, dann wäre sie ja doch eine Gefahr für die Menschheit. Dem Leben ein Ende zu setzen, schien ihr eine plausible Lösung für all ihre Probleme zu sein. Doch was war mit ihrer Mutter? Was hatte sie mitmachen müssen? Vielleicht sollte sie nicht so zimperlich sein. Sie hatte man sicherlich nicht anders behandelt. Und sie wusste, dass ihre Mutter jeden einzelnen Tag ums Überleben kämpfte. Für Anja. Konnte sie sie verlassen? Konnte sie ihrem Leben ein Ende setzen, vor der Wirklichkeit fliehen, während ihre Mutter im Gefängnis saß und allein die Hoffnung, ihre Tochter jemals wiederzusehen, sie stärkte? Nein. Nein, das konnte sie nicht. Ihrer Mutter verdankte sie ihr Leben, das sie zu diesem Zeitpunkt am liebsten weggeworfen hätte. Aber sie durfte nicht. Es gab also doch etwas auf dieser Welt, für das es sich zu kämpfen lohnte. Und sie würde kämpfen, egal was passierte. Mit diesem Gedanken schlief Anja letztendlich völlig erschöpft ein. Albträume plagten sie in der Nacht. Immer wieder sah sie den Sadisten auf sich zukommen.
13.4 Am nächsten Morgen wachte Anja nach einer schrecklichen Nacht auf. Sie hatte wenig geschlafen und schlimme Albträume gehabt. Ihr Körper schmerzte und sie konnte sich kaum bewegen. Stimmte es wirklich? War sie wirklich vergewaltigt worden? Und schon kamen die Erinnerungen an ihn wieder. Es war also wahr. Anja zwang sich, den Gedanken an den Sadisten zu verdrängen. Sie dachte an Gonzo und die Zukunft. Wie würde es weitergehen? Würde es überhaupt weitergehen? Es musste. Sie musste Gonzo finden. Und irgendwann würde sie ihre Mutter wiedersehen. Anja wusste nicht, wie viel Uhr es war, als sie hörte, wie sich ein Schlüssel im Schloss drehte. Die Tür wurde aufgerissen. Zu Anjas Erschrecken war die Person, die in der Tür stand, genau der Mensch, den sie und Gonzo zu Boden geschlagen hatten. Panik ergriff sie. Was würde jetzt geschehen? Was würde Frau Feist ihr antun? Anja musste auf Befehl hin Meldung erstatten. Natürlich gehorchte sie. Sie würde nie wieder einem Erzieher widersprechen. „Jugendliche Sander! Putzdienst.“, sagte Frau Feist. Anja konnte es kaum glauben. Putzdienst? Das sollte Frau Feists Strafe gewesen sein? Oder hatte sie ihr den Sadist auf den Hals gehetzt? War das ihre Strafe gewesen? Anja trat aus der Zelle und die Erzieherin packte sie grob am Arm und führte sie den Flur entlang. „Habt ihr wirklich gedacht, ihr könntet es schaffen? Ihr hattet nie auch nur den Hauch einer Chance. Herr Kossack hatte euren miesen Plan schon längst durchschaut. Er sorgte dafür, dass euch niemand auf den Korridoren begegnete und ihr erst am Ziel eurer Reise gefasst werden würdet. Wir dachten wir lassen euch bis dorthin den Spaß.“, sagte Frau Feist gehässig. „Merkst du nicht, dass du genau hier am richtigen Ort bist? Welcher Mensch wäre in der Lage, so etwas zu tun, wie du es getan hast? Ich wollte dein Leben retten und dafür hintergingst du mich und schlugst mich grausam nieder. Ja, ich bin mir sicher, du gehört hierhin. Du gehörst wegesperrt.“ Frau Feist führte Anja weiter in Richtung Flur. Diese Aussage traf Anja wie ein Stich ins Herz. Selbst schuld! Die Reinigungsmittel standen schon bereit. Wortlos lies Frau Feist das Mädchen los. Anja wusste, was sie zu tun hatte. Sie kniete sich auf den Boden und begann diesen zu schrubben. „Es machte ihr sogar fast nichts mehr aus, dass sie abends auf allen vieren in der seifigen Plörre hockte und den Boden mit der Handbürste schrubbte. Das Putzen hatte wenigstens den Vorteil, dass sie in Gedanken anderswo sein konnte. In der Vergangenheit oder in der Zukunft, ganz egal, nur möglichst weit weg.“ (S. 258 Z. 15-20)
Erklärung unserer umgeschriebenen Stelle im Buch Mit dieser Stelle wollten wir verdeutlichen, wie schwer eine Flucht oder die Durchführung eines solchen Aufstandes war. Selbst wenn die Jugendlichen noch den Mut gehabt hätten, sich gegen die Heimerziehung zu stellen, wäre es ihnen faktisch kaum möglich gewesen. Unter den Insassen herrschte meist Rivalität. Freundschaften, wie die zwischen Anja und Gonzo, waren die Ausnahme. Wir haben speziell diese Stelle im Kapitel 13 ausgesucht, da Anja es kurz vorher geschafft hatte, Gonzo wieder aufzumuntern und zwischen den Mädchen ein Gespräch entstand. Zudem hatten beide schon genug in Torgau erlebt, um die Entscheidung zu treffen, dort keinen Tag länger bleiben zu wollen. Anstoß dazu gibt ein Satz Gonzos: „Du denkst daran, dass es besser ist, tot zu sein, als hier zu leben.“ (S. 256) Anja reagiert darauf schockiert und bietet Gonzo eine Perspektive. Gemeinsam planen sie ihre Flucht und schöpfen neuen Mut. Anja und Gonzo entschieden sich dazu, einen Erzieher mit Gewalt und List zu überwältigen. Wir kamen zu dem Entschluss, die beiden so handeln zu lassen, weil wir bereits vorher von einem ähnlichen Fall gehört hatten. Einige Jugendliche hatten einen ähnlichen Aufputsch geplant (siehe „Widerstand in Jugendwerkhöfen“). Sicherlich stellte sich auch uns die Frage, wie die beiden Mädchen es schaffen konnten, die Erzieherin dermaßen in die Bredouille zu bringen, denn normalerweise war es üblich, dass Prügeleien unter den Insassen für die Erzieher kein Grund zum Eingreifen waren. Dabei muss man allerdings bedenken, dass wir uns bereits im Jahre 1988/89 befinden, wo sich die DDR in einem wahren Umbruch befand. Nach und nach wurden kleine Meldungen aus den Jugendwerkhöfen publik gemacht. Die Bevölkerung in der DDR befand sich derzeit in einer sehr revolutionären Stimmung. Wäre nun eine Mordmeldung aus einem der Jugendwerkhöfe erstattet worden, hätte das sicherlich einige Probleme mit sich gebracht, da die Willkür des DDR – Regimes schon eingeschränkt war. Diesen Fakt mussten auch die beiden Erzieher Frau Feist und Herr Kossack bedenken. Nur aus diesem Grund ließen wir die beiden einschreiten. Hätten wir uns in einer früheren Zeit (1950er – Anfang der 1980er Jahre) befunden, wäre ein Einschreiten der Erzieher in einer solchen Situation undenkbar gewesen, denn schließlich galt Selbstjustiz dort als eine Erziehungsmaßnahme. Uns war es wichtig, dass Anja und Gonzo hier bewusst gewalttätig und hinterlistig handeln, damit deutlich wird, welche Entwicklung die Psyche eines Jugendlichen während seines Aufenthaltes in einem Jugendwerkhof machte. Wäre es doch für Anja zu Beginn des Buches undenkbar gewesen, einen Menschen bei vollem Bewusstsein niederzuschlagen. Sie hatte zwar zuvor in ihrem Stammjugendwerkhof eine Erzieherin mit dem Stuhl niedergeschlagen, aber das geschah im Affekt und war nicht von ihr beabsichtigt. Sie war in diesem Moment sehr verzweifelt. Im Laufe des Buches wendet sie sonst keine Gewalt an, obwohl sie schon an einigen Stellen Aggressionen hat. Der Gewaltakt an Frau Feist löst in Anja einen gewissen Konflikt aus, doch die nahende Freiheit und der Einfluss von Gonzo überwiegen in dieser Situation. Zudem fehlen Anja und Gonzo seit ihrem Aufenthalt im Jugendwerkhof sämtliche soziale Kontakte. Sie erleben jeden Tag lediglich den Umgang mit Gewalt. Es ist also nicht undenkbar, dass sich die Psyche der Jugendlichen stark verändert, weil sie nur mit und zur Gewalt erzogen werden. Im Laufe unserer alternativen Handlung durchlebt Anja noch weitere innere Prozesse und Konflikte. Nach der misslungenen Flucht ist die Euphorie, die sich während der Flucht bei ihr eingestellt hatte, verschwunden. Vielmehr ist sie enttäuscht und zweifelt an sich selbst. Trotzdem ist sie noch in der Lage, Hoffnung zu schöpfen und sie besitzt immer noch die Fantasie des sie beschützenden Panthers. Nach dem sexuellen Übergriff durch den Erzieher Nitzschke ist Anja am endgültigen Tiefpunkt angelangt. Es ist ihr sogar unmöglich, sich in ihre Fantasie zu flüchten. Jeglicher Lebenswille und jeder Hoffnungsschimmer sind nun erloschen. Sie denkt sogar daran, sich das Leben zu nehmen. Lediglich den Gedanken an ihre Mutter kann sie davon abbringen. Bis zu diesem Zeitpunkt leistete Anja immer wieder Widerstand und sei es nur in Gedanken gewesen. Doch nun funktioniert sie nur noch und glaubt inzwischen selbst, verdient in Torgau zu sein. Diese Entwicklung konnte sie eigentlich nur durchschreiten, weil sie dieses schreckliche Erlebnis hatte. Leider waren sexuelle Missbräuche in verschiedenen Heimen der DDR nicht unüblich. Bis vor kurzer Zeit schwieg man zu diesem Thema aus Angst und Scham. Erst in den letzten Jahren brachten es einige Betroffene über sich, über das Erlebte zu sprechen. Uns war es wichtig dieses Tabuthema aufzugreifen und zu behandeln, da es auch in unserer heutigen Gesellschaft wenig bis gar nicht angesprochen wird. Es ist ein sehr dunkles und undurchsichtiges Kapitel sozialistischer Heimerziehung zu Zeiten der DDR. Um aufzuklären und die Wichtigkeit dieses Themas zur Geltung zu bringen, entschieden wir uns dazu sexuellen Missbrauch in unserer alternativen Geschichte als kritisches und strittiges Thema aufzugreifen. Betrachtet man den weiteren Verlauf des Buches, wird man feststellen, dass unsere alternative Handlung nicht nahtlos daran anknüpfen kann. Wir haben uns dafür entschieden, kurz vor Anjas verhängnisvollem Sturz unseren Teil enden zu lassen, damit Anja die Möglichkeit hat, doch noch aus GJWH Torgau entkommen zu können. Auch die weitere Handlung als solches, also die Flucht nach Leipzig und ihr neues Leben dort, könnte so weitergehen. Allerdings wird sich in Anjas Innerem und in ihren Gefühlen etwas ändern müssen, da sie die schreckliche Erfahrung des sexuellen Missbrauches und der gescheiterten Flucht gemacht hat, alles in allem seelischen Qualen ausgesetzt war. Ihr Verhalten – insbesondere zu Tom- würde sich aufgrund dessen wahrscheinlich anders zutragen. Abgesehen davon könnte unsere umgeschriebene Stelle jedoch gut in das Buch eingebunden werden. Die auf unseren Recherchen basierende Alternativgeschichte übt natürlich keinerlei Kritik an Grit Poppes „Weggesperrt“, sondern soll vielmehr zeigen, inwiefern wir uns mit dem Thema „Jugendwerkhöfe in der DDR“ beschäftigt und auseinandergesetzt haben. |